PIANO – ASPEKTE
Eine antichronologische Annäherung
Während des ersten Lockdowns begann ich mir (und später auch meinen
Studenten) einzureden, dass das Klavier ja das Solo-Instrument par excellence
sei und man nun genug Zeit habe, sich ausgiebig mit einschlägiger
Literatur und ungelösten Problemen, Liegengebliebenem zu beschäftigen.
Ein Langzeitthema hierbei ist und bleibt für mich das Streben nach
maximaler Unabhängigkeit der beiden Hände, nach größtmöglicher
Polyphonie. Ich treffe da schnell auf physische Grenzen und muss
versuchen, mich selbst zu überlisten, durch disziplinierte Vor- und
Zwischenübungen und dann wieder völliges Loslassen im Fluss.
Was sich zunächst nach dem Versuch der Persönlichkeitsspaltung anhört,
ist im Grunde nur zu verstehen über die Wahrnehmung präziser
polyrhythmischer Gewebe und deren physischer Koordination, über das
blitzschnelle Hin- und Herschalten und schließlich virtuelle
gleichzeitige Wahrnehmen dieser Ebenen, im Grunde eine Form von
Illusionismus.
Wie weit diese Persönlichkeitsspaltung getrieben werden kann, ist die
Frage – kann ich mit mir selbst dialogisieren? Zumindest könnte ich den
Eindruck erwecken und so etwas wie ein Ein-Mann-Theaterstück mit
wechselnden Rollen inszenieren.
Auf Dauer interessanter und befriedigender erscheint mir das
Zusammenspiel mit einem tatsächlichen Gegenüber, besonders wenn die
Rede ist von einer kompatiblen Haltung hinsichtlich Kontrast,
Kontrapunkt und musikalischer Form.
Diese zeigt sich gerade im Diskurs, in scheinbaren Divergenzen.
Bloß nicht ständig dem anderen nach dem Mund reden. Ereignisse vorbeigehen lassen (vielleicht später wieder aufgreifen). Playing hard to get.
Ausweichmanöver, Vermeidungstaktiken (Misha Mengelberg war ein Meister
darin). Stoizismus. Dann mit einer Phrase (unerwartet) wieder ganz bei
dem Duopartner sein. Etcetera.
Um diese und ähnliche Taktiken anwenden zu können, brauchte ich erst
mal einige Zeit, um überhaupt Zusammenspiel zu lernen, um die
Möglichkeiten kennenzulernen, musikalische Ereignisse zu platzieren und
mein Gegenüber zu unterstützen, zu ergänzen oder auch mal in Ruhe zu
lassen. Ich verwende hier bewusst umständlichere Begriffe als die
jazzüblichen (Comping,
Begleitung), auch wenn meine Erfahrungen in der Anfangszeit zunächst in
diesem Kontext gesammelt wurden und bedingt waren durch Punkte in einem
rhythmischen, harmonischen und formalen Koordinatensystem.
(Im übrigen gefällt mir der Begriff „Begleiten“ nicht. Ein Kommilitone
aus Studienzeiten, der mittlerweile eine Karriere als klassischer
„Liedbegleiter“ gemacht hat, stellte das damals schon richtig: Es geht
ums Musik machen.)
Sobald damals frei improvisiert wurde, begann bei mir die große
Unübersichtlichkeit: Gibt es ein Tempo? Gibt es Tonalität? Wo gehen wir
hin? Worin besteht überhaupt meine Rolle hierbei?
Um der Haltlosigkeit zu entgehen, nahm ich die musikalischen Äußerungen
meines Gegenübers als fortlaufende Referenz, was statt der gewünschten
(vermeintlichen) Kohärenz den gegenteiligen Effekt hatte: Ich
versuchte, das Gespielte in irgendeiner Weise harmonisch zu deuten,
doch ständig verpassten wir uns, ich kam gar nicht hinterher. „Wir
treffen uns nie“, wie ein bei meinen frühen freien Gehversuchen
involvierter Duopartner anmerkte.
Erst später entdeckte ich die Möglichkeit (und Schönheit), auf zwei
parallelen Routen zu reisen, ohne sich dabei aus den Augen zu verlieren
und sich an der nächsten Raste (halb unverhofft) zu treffen.
Mittlerweile hilft mir oft die Idee, eine Art gedachter flexibler
Partitur im Kopf zu haben, die mir für eine Weile den Weg weisen kann.
Oder vielleicht ist es eher ein Mobile von Plänen – (Plan A, B, C, X,
Y…), die jederzeit in Kraft treten, aber auch ausgetauscht werden
können.
Neben dem Interesse an oben erwähnten Improvisationsstrategien begann
ich mehr und mehr darüber nachzudenken, ob es nicht noch viele andere
Klavierklänge und – texturen gibt, die sich im Ensemble mit den anderen
Instrumenten auf unterschiedliche Weise mischen und neue Ensembleklänge
generieren können.
Zu denken gab mir auch, dass mir damals (mit „damals“ meine ich immer
meine große „Lern-Zeit“: ab Mitte der 80er bis Ende der 90er Jahre)
häufiger signalisiert wurde: Pianisten stehen uns im Weg, wir fühlen
uns freier ohne Harmonieinstrument, wir brauchen diesen harmonischen
Ballast nicht. Bands wurden gegründet oder umbesetzt, ohne Klavier,
dann vielleicht mit Keyboards oder Gitarre. (Ich hatte selbst einen DX7
in der Zeit, kam aber programmiertechnisch nicht allzu weit damit.)
Hm… Nun gab und gibt es aus meiner Sicht jede Menge unentdecktes, wenig
entwickeltes oder benutztes Klangvokabular auf meinem Instrument, aber
eben auch jede Menge angelernter, unhinterfragter und freiwillig
angewendeter Stereotypen, die zur Jazzensemble-Sprache vieler Pianisten
zu gehören scheinen.
Bis heute begegnet mir (nicht nur bei Pianisten) häufig eine sehr
ausdifferenzierte, durch verschiedenste Harmonielehre-Systeme geschulte
Herangehensweise, die Zusammenklänge in erster Linie analytisch
begreift und eine umfassendere klangliche Vision unberücksichtigt
lässt.
Was mich interessiert ist: Klang – und damit zusammenhängend: Textur.
Damit einher geht auch die schon in den Klassikern der
klavierdidaktischen Literatur (Artur Schnabel, Heinrich Neuhaus)
benannte Wandlungsfähigkeit des modernen Flügels (bei Schnabel sogar
als „Neutralität“ bezeichnet), die es erlaubt, Assoziationen zu allen
möglichen anderen Instrumental- und Nicht-Instrumentalklängen
herzustellen.
Man kann also durchaus inkognito in verschiedene Rollen schlüpfen und Mimikry betreiben.
Maßgeblich hierfür sind die Phantasie und Intuition des Spielers.
Viele andere Klänge und Klangtypen sind im Lauf der Zeit in mein
musikalisches Gedächtnis (meine „Speicherbank“) eingeflossen – manches
davon ist natürlich auch anderswo in der Klavierliteratur anzutreffen:
Streichquartette, Bläserquintette, Singen, Sprechen, Lauten- und
Gitarreninstrumente, Cembali, Klarinetten, Posaunen,
Perkussionsensembles, Marimbas, Gamelan, die Shō in der Gagaku-Musik,
Orgeln, Gongs, Kontrabässe, Celli, westafrikanische Highlife-Gitarren,
dann aber auch mechanische Instrumente, Nähmaschinen, Morsegeräte,
überhaupt obsolete Maschinensounds, Sampler, analoge Synthesizer,
ebenso wie Umweltgeräusche, Vogelstimmen, Regen, splitterndes Glas…
Natürlich kann dabei nicht von einer klanglichen Eins-zu-eins-Umsetzung die Rede sein.
Es geht vielmehr um eine „Idee von Klang“ und auch um verschiedene
Grade der Abstraktion. Auch visuelle Assoziationen und Erinnerungen
spielen eine Rolle.
Den eigentlich interessanten Aspekt bildet das Zusammenspiel mit sehr
unterschiedlichen Instrumenten und Spielern. Ich suche dabei stets nach
Anknüpfungspunkten, aber auch nach Kontrast und Ergänzung, nach
Klängen, die im Sound des anderen Instrumentes aufgehen können oder
diesen umhüllen.
Nicht zuletzt spielt natürlich auch der Sound des zu spielenden
Klavieres oder Flügels eine bestimmende Rolle. Gerade alte oder nicht
gerade perfekte Instrumente können in der improvisierten Musik eine
nicht reizlose Wirkung entfalten – mit ihrem brüchigen Klang und
Assoziationen an alte, vergilbte Fotos.
Das Klavier ist in meiner Realität ein objet trouvé – etwas, das vorgefunden wird.
Egal wohin man geht, wo man spielt, probt, auftritt oder aufnimmt – das
Instrument ist nie das eigene, sondern in vielen Fällen eine neue
Bekanntschaft.
Der improvisierende Pianist ist in aller Regel schon dadurch
Improvisierer, dass er mit dem Vorgefundenen umgehen, sich damit
anfreunden oder dagegen kämpfen muss. Die Aufgabe besteht darin,
Eigenheiten und Unzulänglichkeiten des Instrumentes in die Musik zu
integrieren, diese auch kreativ zu nutzen.
Ich habe keine speziellen Erwartungen an das jeweilige Instrument, ich nehme das Vorgefundene an.
Klangvorstellungen, die ich in mir trage, werden in Beziehung gesetzt
zu dem jeweiligen Instrumentarium. Das gelingt mal besser und mal
schlechter.
Was nicht bedeuten soll, dass ich mir etwa für ein Solokonzert ein
minderwertiges Instrument wünsche. Die jeweilige Spielsituation setzt
dieser Offenheit gewisse Grenzen.
Eigentlich war mein Instrumentarium für mich schon immer etwas
Vorgefundenes. Seit ich mich erinnern kann, stand ein Flügel in der
Wohnung meiner Eltern – ein altes Instrument der Marke Thürmer, den
meine Mutter durch Jobben in einer Reifenfabrik finanziert hatte.
Auf ihm wurde viel gespielt, später auch viel unterrichtet.
Mein Zugang war zunächst der des spielenden Kindes mit Faszination für Klänge.
Den Resonanzboden des Flügels von unten abzuklopfen, dabei das rechte
Pedal herunterzudrücken und im Diskant Geister-Sounds zu machen, war
für mich genauso spannend wie die Geräusche vorbeifahrender und
rangierender Züge, oder wie die unterschiedlichen Glocken-Setups der
Kirchtürme in der näheren Umgebung.
Ein Flügel ist für mich bis heute immer auch ein Möbelstück.
Bestimmte Klänge sind für mich Möbel-Klänge – genau erklären kann ich das nicht.
(Von grünen gibt es ein Stück namens Mobiliar I.)
Die Verbindung von Holz und Metall weist wiederum von drinnen nach
draußen – zu den Eisenbahnzügen und Glocken, zu industrieller
Architektur.
Fast forward: Jahrzehnte später verbrachte ich einen Sommer in Berlin
damit, Baustellengeräusche aufzunehmen: Zeitweilig gab es die sowohl
vor dem Haus, auf der Straße, als auch im Hinterhof – es wurde parallel
und in Stereo gearbeitet. Ich stand morgens früh auf und positionierte
Mikrofone mit langen Kabeln an den Fenstern auf beiden Seiten der
Wohnung, um unbeabsichtigte Korrespondenzen der beiden Baustellen
aufzunehmen.
Irgendwann begann ich, dazu Klavier zu spielen – wiederum die Verbindung vom Drinnen zum Draußen.
Zurück zum Jazz: Auch der Sound von Thelonious Monk beispielsweise
birgt für mich Assoziationen an Stahlkonstruktionen, Glocken,
industrielle Architektur.
Eine der ersten Jazzplatten, die ich als Kind hörte, waren
Soloaufnahmen von Erroll Garner. Bis heute höre ich in seinem
obertonreichen Klavierklang ähnliche Eigenschaften.
Etwa zehn Jahre später dann: Port of Call von Cecil Taylor. Garner soll einer seiner frühen Einflüsse gewesen sein.
Noch einige Jahre später: Geri Allen, die ich zum ersten Mal bei einem
Konzert mit James Newton in Italien Anfang der 80er Jahre erlebte.
Ihre Soloplatte Homegrown begleitet mich bis heute.
Achim Kaufmann, März 2021
erschienen (mit kleinen Modifikationen) im Jazz Podium 5/2021